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Sozialstaat und Demokratie: Von Berlin aus, nach Berlin zurück

Zum Tod des Historikers Gerhard A. Ritter - ein Nachruf von Paul Nolte

23.06.2015

Gerhard A. Ritter (29. März 1929 – 20. Juni 2015)

Gerhard A. Ritter (29. März 1929 – 20. Juni 2015)
Bildquelle: Nora Bibel

Am vergangenen Sonnabend starb der Historiker Gerhard A. Ritter 86-jährig in Berlin. Der renommierte Sozialhistoriker, der von 1949 an an der Freien Universität studierte und dort 1952 promoviert wurde, habilitierte sich 1961 bei Hans Herzfeld über die Arbeiterbewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Von 1962 bis 1965 hatte Ritter eine Professur für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität inne, bevor er von 1965 an als Historiker in Münster lehrte und seit 1974 in München. Dort wurde er 1994 emeritiert. Ein Nachruf von Professor Paul Nolte, Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin.

Er war ein Berliner: im März 1929 in eine Moabiter Familie geboren, in Dahlem aufgewachsen und zur Schule gegangen. Der Vater etablierte einen kleinen Verlag für Theaterliteratur, die Nähe zum Arbeitermilieu blieb und übertrug sich auf die wissenschaftliche Arbeit des Sohnes.

Doch zunächst genoss Gerhard A. Ritter, wie viele in seiner Generation, die neuen geistigen Freiräume im materiell und moralisch zertrümmerten Berlin nach 1945. Schnell das Abitur, dann zum Studium nach Tübingen, aber schon 1949 zurück nach Berlin an die gerade gegründete Freie Universität, wo er sich auf Geschichte und Politik konzentrierte und bereits 1952 bei Hans Herzfeld über die Arbeiterbewegung im wilhelminischen Kaiserreich promovierte.

Dann lockte der Westen. Ritter ging zwei Jahre nach Oxford und lernte viel über politische Parteien und Parlamentarismus. Die besondere Nähe zu England, zur britischen politischen Kultur blieb ein Leben lang und machte ihn zu einem Pionier der vergleichenden Geschichte, vor allem in seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Entwicklung des modernen Sozialstaats.

Aber auch die Deutschen jüdischer Herkunft, die vor den Nazis nach Amerika geflohen waren und nun als Remigranten an der Freien Universität lehrten, machten großen Eindruck auf ihn: Hans Rosenberg, einer der Gründerväter der Sozialgeschichte, und Ernst Fraenkel, der Anwalt einer pluralistischen Demokratie und spätere Mitbegründer des John F. Kennedy-Instituts.

1961 habilitierte er sich mit einer doppelten Lehrbefugnis für Geschichte und Politikwissenschaft. Das war damals noch möglich, aber trotzdem ungewöhnlich und unterstreicht die Verbindung historischer mit systematischen Fragen, die ihn umtrieb. Drei Jahre hatte er eine Professur am Otto-Suhr-Institut, bevor er dann doch ganz zu den Historikern wechselte, mit einem Ruf nach Münster 1965 und neun Jahre später nach München, wo Gerhard A. Ritter 1994 emeritiert wurde.

Unermüdlich schrieb er über Arbeiterschaft und Sozialstaat, Parteien und Demokratie und entwickelte eine Meisterschaft in der kleinen Form, irgendwo zwischen Aufsatz und Buch: argumentationsstark und doch immer mit Empirie unterfüttert. Daneben organisierte er vieles und stieß Publikationsvorhaben an wie die große, immer noch nicht abgeschlossene „Geschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert“.

Er errang Einfluss, amtierte 1976 bis 1980 als Präsident des deutschen Historikerverbandes, übte seine Macht aber unauffällig, verbindlich und mit nie nachlassender Freundlichkeit aus. Seine zahlreichen Schülerinnen und Schüler inspirierte er in viele Richtungen, aber am wichtigsten waren wohl die Anstöße für eine neue Sozialgeschichte, die von Jürgen Kocka und anderen auch prinzipiell begründet und theoretisch reflektiert wurde.

Theoriediskussion war, bei aller Interdisziplinarität und analytischer Schärfe, Ritters Sache nie. Der Berliner Geschichtswissenschaft drückte er nach der Wiedervereinigung seinen Stempel auf, als Vorsitzender der Struktur- und Berufungskommission seines Faches im Neuaufbau der Humboldt-Universität. Ohne Ritter wäre hier nicht binnen weniger Jahre eines der wichtigsten und intellektuell stärksten historischen Institute der Republik entstanden.

Friedliche Revolution und Einheit faszinierten ihn zunehmend, persönlich und bald auch in seinen Forschungen, bis zu seinem letzten, 2013 erschienenen Buch über die Rolle Hans-Dietrich Genschers in der Wiedervereinigung, den er neben Helmut Kohl mehr gewürdigt wissen wollte.

Ritters Lebensthemen als Mensch und Wissenschaftler aber bündelten sich in dem großen Werk über den Umbau des Sozialstaats in den Wiedervereinigungsjahren bis 1994, für das er 2007 den Preis des Historischen Kollegs, den bedeutendsten deutschen Historikerpreis, erhielt: Demokratie kann ihren Ansprüchen nur gerecht werden, wenn sie die Arbeiterschaft einbezieht und sich als Sozialstaat erweitert. Doch nie wäre er auf die Idee gekommen, das gegen „bürgerliche“ Verfassung, Parlament und Parteien auszuspielen. Die sozialstaatliche Gestaltung der Einheit, so Ritter, war weder kosmetisches Beiwerk noch materielle Gefälligkeit, sondern ihr konstitutiver Teil.

Da war Ritter mit seiner Frau längst vom Starnberger See nach Berlin zurückgekehrt. Man sah ihn häufig, fröhlich teilnehmend und sich mit Fragen einmischend, bei hauptstädtischen Veranstaltungen im Schnittfeld von Wissenschaft, Kultur und Politik. Hier ist der große Historiker der sozialstaatlichen Demokratie am Samstag im Alter von 86 Jahren verstorben.

Weitere Informationen

Der Nachruf ist im gedruckten Tagesspiegel vom 23. Juni 2015 und online erschienen.