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„Solidarität ist keine Einbahnstraße“

Ein Gespräch mit Christian Calliess, Professor für Europarecht an der Freien Universität, über Griechenland, den Euro und Deutschland

22.06.2015

Berühmte Baustelle: Nicht nur der Parthenon, der für die griechische Göttin Pallas Athene erbaute Tempel auf der Akropolis, wird seit Jahren saniert. Im gesamten Land sind Umbauarbeiten von Nöten.

Berühmte Baustelle: Nicht nur der Parthenon, der für die griechische Göttin Pallas Athene erbaute Tempel auf der Akropolis, wird seit Jahren saniert. Im gesamten Land sind Umbauarbeiten von Nöten.
Bildquelle: wr / Fotolia

Prof. Dr. Christian Calliess ist Prozessbevollmächtigter des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof.

Prof. Dr. Christian Calliess ist Prozessbevollmächtigter des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof.
Bildquelle: Andreas Kämper

Christian Calliess ist zurzeit ein gefragter Mann. Als Prozessbevollmächtigter vertritt er den Deutschen Bundestag in gleich zwei Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Der Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität Berlin setzt sich zudem als Mitglied der „Glienicker Gruppe“ für den Aufbruch in die Euro-Union und somit ein „vertieftes Europa“ ein. Campus.leben sprach mit ihm über die gegenwärtige Situation in Griechenland, einen möglichen Austritt des Landes aus dem Euro-Währungsraum und die Rolle Deutschlands.

Herr Professor Calliess, die griechische Regierung wurde gewählt, um Reformen im eigenen Land zu stoppen. Das ist der Wählerwille. Gleichzeitig darf Deutschland dem Land finanzielle Hilfen nur gegen die Zusage von Reformen gewähren – das klingt nach einem Dilemma.

In der Tat, es handelt sich um ein demokratisches und ein soziales Dilemma. Man muss aber bedenken, dass schon aus dem EU-Vertrag – das ist die gewissermaßen von allen Mitgliedstaaten, ihren Parlamenten und ihren Bürgern vereinbarte Verfassung – folgt, dass solidarische Nothilfen aus den sogenannten Rettungsschirmen (EFSF und ESM) im Interesse der Stabilität des Euroraumes nur unter „strengen Auflagen“ erfolgen dürfen (Art. 136 Abs. 3 AEUV).

Diese Linie verfolgt nicht nur die Politik mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH). Es handelt sich somit um eine Koppelung von Solidarität und Strukturreformen, mit dem Ziel, dass Griechenland seine Haushaltlage mit den gemeinsamen Regeln der Wirtschafts- und Währungsunion, konkret den Stabilitätskriterien, wieder in Einklang bringt. Eine strikte Linie – die notwendig ist, weil die EU zwar eine Währungskompetenz hat, Haushaltspolitik aber in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verblieben ist. So gesehen kann Solidarität schon rechtlich betrachtet keine Einbahnstraße sein.

Auch die Beachtung der gemeinschaftlichen Regeln ist, wie der EuGH immer wieder betont hat, ein Ausdruck von Solidarität: Man kann nicht nur die Vorteile Europas genießen, man muss auch die damit verbundenen Lasten tragen. Griechenland muss sich daher mit Strukturreformen wieder an die gemeinsamen Regeln annähern und sich damit im Ergebnis an die vereinbarten Stabilitätskriterien der Währungsunion – quasi deren Geschäftsgrundlage, die unter anderem den Schuldenstand begrenzen – halten.

Lässt sich das oben skizzierte Dilemma zwischen dem Reformen-Stopp auf der griechischen und der Forderung nach Reformen auf der deutschen Seite überhaupt auflösen?

Es handelt sich um ein sogenanntes demokratisches Dilemma. Denn sowohl das griechische Parlament als auch der Deutsche Bundestag berufen sich auf ihr jeweiliges Recht, den Haushalt und somit die Ausgaben des Staates selbstständig festlegen zu können. Das nennt man auch das „Königsrecht“ nationaler Parlamente.

So mag es aus griechischer Sicht verständlich sein, dass die griechische Regierung ihre Wahlversprechen umsetzen will. Aber das kann und darf, wie gesagt, nicht so ohne Weiteres über die solidarischen Nothilfen aus den Rettungsschirmen – und damit auf Kosten der Haushalte und Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten – geschehen. Hier kommt aber das der griechischen Sicht gegenläufige Haushaltsrecht des deutschen Bundestages ins Spiel. Die EU ist ja bislang keine bundestaatliche Transfer- und Sozialunion, sie kennt keinen dem deutschen Bundesstaat vergleichbaren Länderfinanzausgleich – der ja im Übrigen auch selbst bei uns immer mal wieder in Streit und auf dem Prüfstand steht.

Wo liegen denn Ihrer Ansicht nach die Probleme Griechenlands?

Eines der größten Probleme ist die nicht effektiv funktionierende Verwaltung. Steuern werden offenbar nicht konsequent eingetrieben, was bedeutet, dass es keine Steuergerechtigkeit gibt. Vielerorts gibt es noch nicht einmal Grundbücher, mithilfe derer man feststellen könnte, wem welche Immobilien gehören.

Daher plädiere ich für eine großangelegte Verwaltungsreform. Jeder Mitgliedstaat in der EU muss in der Lage sein, das gemeinsame Recht anzuwenden und durchzusetzen. Vor allem für solche nationalen Strukturreformen müsste Geld in die Hand genommen werden. So etwas kann natürlich nicht von heute auf morgen gelingen. Ich rechne mit einem rund zehnjährigen Prozess. Im Gegenzug plädiere ich dafür, die Europäische Kommission im Zuge einer Vertragsänderung als eine Art Wirtschaftsregierung mit mehr Kontroll- und Durchgriffsmöglichkeiten in die nationalen Haushalte auszustatten, wenn diese die gemeinsamen europäischen Haushaltsregeln verletzen.

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, warnt vor einem Austritt Griechenlands aus dem Euro-Raum. Wäre das trotzdem eine Option?

Die Währungsunion ist auf unbegrenzte Dauer angelegt, sie hat ein eher schwach ausgeprägtes Sanktionensystem, das 2003 und 2005 auf Initiative Deutschlands und Frankreichs sogar noch einmal abgeschwächt wurde. Die Verträge sehen auch keine Möglichkeit vor, einen Staat zum Austritt aus dem Euro-Währungsraum zu zwingen oder ihn auszuschließen. Dies gilt auch für den Fall, dass ein Staat – wie Griechenland – die Stabilitätskriterien verletzt und damit die Stabilität im Euro-Raum gefährdet.

Das bedeutet, Griechenland könnte – wenn überhaupt – nur auf eigenen Wunsch ausscheiden?

In der Tat, wenn überhaupt. Denn grundsätzlich ist der Euro ja auf Unumkehrbarkeit angelegt, damit die Finanzmärkte insoweit nicht spekulieren.

Aber wer vor dem Staatsbankrott steht, dessen Wahlfreiheit ist doch beschränkt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man mutet den Bürgern das daraus folgende politische und soziale Chaos zu, oder man nimmt die solidarischen Hilfen aus dem Rettungsschirm an, die an Strukturreformen gekoppelt sind. Zwar wurden mit dessen Geldern auch Banken gerettet, jedoch wurden zugleich auch die Ersparnisse vieler Griechen gesichert und das Land jedenfalls vor dem totalen Absturz eines Staatsbankrotts bewahrt.

Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass bei einer fortdauernden Verweigerungshaltung Griechenlands ein Wegfall der gemeinsamen Geschäftsgrundlage des Euro-Raumes gegeben wäre. Und dann wäre – wie bei Verträgen sonst auch üblich – eine Vertragsanpassung dergestalt möglich, dass Griechenland auf den Status eines Nichteurolandes zurückgestuft wird. Wie eingangs gesagt: Solidarität ist nun einmal keine Einbahnstraße.

Die Fragen stellte Jan Hambura