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Opfertanz mit zeitdiagnostischer Kraft

100 Jahre nach der Erstaufführung von „Le Sacre du printemps“ geht ein fächerübergreifender Kongress den vielfältigen Resonanzen des Jahrhundertwerks nach

13.11.2013

Le Sacre du Printemps 1913: Tänzerinnen der Ballets Russes, Originalaufnahme von Charles Gerschel.

Le Sacre du Printemps 1913: Tänzerinnen der Ballets Russes, Originalaufnahme von Charles Gerschel.
Bildquelle: culture-images

Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, Tanzwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin.

Prof. Dr. Gabriele Brandstetter, Tanzwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Christina Stivali

Selten wird ein Tanz- oder Theaterabend zu einem historischen Ereignis. Die Premiere von „Le Sacre du Printemps“ 1913 war ein solcher Moment: Es war nicht nur ein großer Kunstskandal, bei dem das Publikum empört über mangelnde Grazie und kakophonische Klänge den Saal verließ. Bei dieser Aufführung am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurden brisante, hochaktuelle Themen auf die Bühne gebracht. Ein Kongress vom 14. bis 17. November in Berlin bringt Kunstschaffende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, um den vielfältigen Dimensionen des Werks nachzugehen. Ein Gespräch mit Gabriele Brandstetter, Professorin für Tanzwissenschaft an der Freien Universität, die die Tagung konzipiert hat und sie in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes veranstaltet.

Frau Professor Brandstetter, der Kongress „Tanz über Gräben“ nähert sich „Le Sacre du Printemps“ aus verschiedenen Perspektiven: zum einen mit klassischen wissenschaftlichen Vorträgen, zum anderen aber auch praktisch, mit Aufführungen, Installationen. Was erhoffen Sie sich von dieser Mischung?

Wir haben die Veranstaltung bewusst so konzipiert, dass deutlich wird: Wir feiern nicht einfach das Jubiläum eines 100 Jahre alten Meisterwerks des Tanzes, sondern es geht um ein Ereignis, das über den Tanz hinaus kulturelle, gesellschaftliche, politische Themen anspricht, die auch heute noch aktuell sind. Es gibt deshalb nicht „eine wissenschaftliche Konferenz“ und ein „künstlerisches Begleitprogramm“, sondern beides greift ineinander, alle Programmpunkte sind Beiträge zur gemeinsamen Diskussion der Konferenz.

Das Ballett scheint 1913 buchstäblich den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Der französische Publizist Jacques Rivière, der damals dabei war, nannte es in seiner Rezension ein soziologische Ballett, das „Unbekanntes sichtbar“ mache.

„Le Sacre du printemps“ handelt vom Opfer einer jungen Frau, die in einem Ritual auserwählt wird, um dem Sonnengott dargebracht zu werden. Sie tanzt sich im Kreis von Männern, Frauen und Stammesältesten in einem großen ekstatischen Tanz zu Tode.

Komponist Igor Strawinsky, der Bühnenbilder Nicolas Roerich sowie Waslaw Nijinsy als Choreograf haben diesen rituellen, grausamen Prozess in eine sagenhafte prähistorische Zeit zurückverlegt. In diesem primitivistischen, scheinbar vorgeschichtlichen Ritual auf der Bühne wurden jedoch Themen angesprochen, die in der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg höchst aktuell waren: Es ging um die Auseinandersetzung mit dem Fremden, mit „anderen Kulturen“ auf dem Höhepunkt von Kolonialismus und Imperialismus und die krisenhaften Erfahrungen des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft.

In diesem Kontext steht auch der politische und psychologische Diskurs über die „Masse“, der damals Wissenschaftler und Politiker beschäftigte. Zentral war die Frage nach der Rolle des Opfers, die in dieser Zeit in vielen literarischen und wissenschaftlichen Publikationen behandelt wurde: Welche Opfer können in einer Gesellschaft legitimiert werden? Die politischen Spannungen der Aufrüstung vor dem Ersten Weltkrieg werden in diesem „Opfer“-Diskurs ablesbar. Die Frage, wie wir mit der Doppelbedeutung dieses Themas in „Sacre“ umgehen – Opfer als „sacrifice“ oder als „victim“ – ist bis heute aktuell.

Erklärt das auch den Tumult im Publikum während der Uraufführung?

Soweit wir wissen, war es die ästhetische Dimension von „Le Sacre du printemps“, die das Publikum zu einem regelrechten Aufruhr trieb, ein großer Kunst-Skandal und ein Avantgarde-Schock. Die Aufführung, die das Publikum an diesem Abend zu sehen bekam, zeigt einen radikalen Bruch mit allem, was bis dahin unter „Ballett“ verstanden wurde. Strawinskys Musik wurde – in ihrer komplizierten rhythmischen Struktur und den ungewohnten Harmonien – als „Kakophonie“ bezeichnet. Und Nijinskys Umgang mit den Körpern der Tänzer und die Choreografie der Gruppen erschien Zuschauern und Kritikern als „Verbrechen gegen die Grazie“: Die im Wortsinne schönen Linien des Balletts waren gebrochen, geknickt. Die Tänzer standen mit eingedrehten Füßen auf der Bühne und bewegten sich in eckigen Formationen.

Es gibt keine Aufzeichnung der Choreografien Nijinskys. Wie können wir heute wissen, wie gearbeitet, geprobt, getanzt wurde?

Es sind keine komplette Notation und keine filmische Aufzeichnung von der Choreografie Nijinskys überliefert. Dennoch gibt es zahlreiche Quellen und Dokumente, Berichte von Zeitzeugen, die es möglich machen, die wichtigsten Elemente der Bewegungen, Gesten, Raumkonfigurationen zu rekonstruieren. Mithilfe dieser Quellen erarbeiteten Millicent Hodson und Kenneth Archer – in jahrzehntelanger Recherche – 1987 eine Rekonstruktion für das Joffrey Ballet. Diese Version kommt dem Original gewiss sehr nahe und ist deshalb ihrerseits zum Bezugspunkt vieler zeitgenössischer „Sacre“-Versionen geworden. Dennoch muss man sich bewusst sein: Das „Original“ der Nijinsky-Choreographie ist nicht zugänglich. Genau diese „Lücke“ gibt aber auch einen Anreiz, was die über 250 Neu-Choreografien weltweit zeigen, die seit der Uraufführung bis heute entstanden sind. Einige – etwa das „Frühlingsopfer“ von Pina Bausch aus dem Jahr 1975 – sind durch eine eigene Bewegungssprache und eine choreografische Form selbst zu einem kanonischen Meisterwerk des Tanzes geworden.

„Die Neuheit ist so brutal und roh“, schrieb Rivière 1913 über „Sacre“. Wäre eine solche radikale Neuheit heute noch möglich?

Heute gibt es im Tanz keine fixierten Bewegungskonventionen mehr wie im Ballett um 1900, und deshalb geht es nicht mehr um eine ästhetische Revolution im „Kunsttanz“. Die ethischen und politischen Herausforderungen von „Le Sacre du printemps“ sind jedoch selbst so „brutal“, dass ich mir schon vorstellen kann, dass es auch heute Versionen von „Sacre“ gibt, die schockierend oder zumindest aufrührend wirken. Und das ist auch ein Ziel vieler junger Choreografen heute. Ich selbst bin deshalb besonders gespannt, welche Versionen, welche Experimente und Auseinandersetzungen die Uraufführungen von zehn „Sacre“-Inszenierungen bringen werden, die im Rahmen des Kongresses im Theater Hebbel-am-Ufer zu sehen sein werden.

Die Fragen stellte Nina Diezemann

Weitere Informationen

Tanz über Gräben. 100 Jahre »Le Sacre du Printemps«

Kongress, Gespräche, Aufführungen

Konzeption: Gabriele Brandstetter / Zentrum für Bewegungsforschung.

RADIALSYSTEM V und HAU Hebbel am Ufer, Berlin

14. – 17. November 2013

Detaillierte Informationen zum Programm.

Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes und des Zentrums für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit TANZFONDS ERBE, dem RADIALSYSTEM V und dem HAU Hebbel am Ufer.