Springe direkt zu Inhalt

Diesseits und jenseits der Oder: „Das Historische nicht ohne das Menschliche begreifen“

Literaturdidaktikerin der Freien Universität für ihre Doktorarbeit über das Geschichtsverständnis von deutschen und polnischen Jugendlichen mit dem VBKI-Preis für Europaforschung ausgezeichnet

04.07.2011

Blick zum Nachbarn: Die Brücke über die Oder verbindet Frankfurt (Oder) und das polnische Słubice

Blick zum Nachbarn: Die Brücke über die Oder verbindet Frankfurt (Oder) und das polnische Słubice
Bildquelle: Stadt Frankfurt (Oder) – Häseker

Für viele der 14- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schüler einer Berliner Schulklasse, die die Literaturdidaktikerin Jeanette Hoffmann im Rahmen ihrer Promotion befragt hatte, war die Lektüre des zeitgeschichtlichen Jugendromans „Malka Mai“ von Mirjam Pressler ein Anstoß: der Anlass, mit Verwandten zum ersten Mal über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Anders in Polen: Die meisten der von der Wissenschaftlerin befragten Jugendlichen in zwei Warschauer Schulklassen hatten dies schon unabhängig von dem Buch getan.

Ein zweites Ergebnis der Doktorarbeit von Jeanette Hoffmann mit dem Thema „Literarische Gespräche im interkulturellen Kontext“: Die meisten der befragten Jugendlichen polnischer Herkunft bewerteten – bei einer Differenz zwischen dem gesellschaftlichen und dem familiären Gedächtnis – das Gedächtnis der eigenen Familie höher. Das heißt, dass sie eher bereit waren, das aufzunehmen, was ihnen Verwandte erzählten, als das, was gesellschaftlicher Konsens und in Geschichtsbüchern nachzulesen ist. Bei den Jugendlichen deutscher Herkunft war es eher umgekehrt. Es gebe aber auch innerhalb der jeweiligen Länder Unterschiede, räumt Jeanette Hoffmann ein.

Lektüre in Berliner und Warschauer Schulklassen

Der Jugendroman „Malka Mai“ von Mirjam Pressler erzählt die Geschichte der Flucht einer jüdisch-polnischen Familie im Zweiten Weltkrieg. Für Ihre Doktorarbeit zur Unterrichtsforschung hatte Jeanette Hoffmann drei Schulklassen besucht und begleitet: eine in Berlin und zwei in Warschau. Alle 14- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schüler hatten im jeweiligen Deutschunterricht unter Anleitung ihrer Lehrerinnen „Malka Mai“ gelesen. Jeanette Hoffmann beobachtete den Unterricht und führte anschließend Interviews mit den Jugendlichen.

Geschichte(n) vermitteln in Deutschland und Polen

Hier stellte Hoffmann auch Gemeinsamkeiten fest: „Auch wenn sich die Art des Unterrichts in beiden Ländern unterscheidet, haben die Lehrerinnen in Deutschland und in Polen zur historischen Einordnung des Romans jeweils mit ihren Schülerinnen und Schülern bestimmte Begriffe geklärt, weitere literarische Werke herangezogen und Bezüge zur eigenen Familiengeschichte hergestellt“, sagt Jeanette Hoffmann. „Es scheint, als könnte man das Historische nicht ohne das Menschliche begreifen.“ Das, sagt die Wissenschaftlerin, sei das Verbindende dies- und jenseits der Oder.

Ausgezeichnete Doktorarbeiten

Jeanette Hoffmann ist eine von fünf Wissenschaftlern, die kürzlich mit dem Preis für Europaforschung des Vereins der Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) ausgezeichnet wurden. Die Preise sind mit jeweils 3000 Euro dotiert und zeichnen Doktorarbeiten aus, die sich mit Fragen zur Europäischen Union beschäftigen. Drei der fünf Preisträger haben ihre Doktorarbeit an der Freien Universität verfasst.

Der Historiker Gérard Bökenkamp nahm sich in seiner Arbeit „Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969-1998“ ebenso eines wirtschaftlichen Themas an wie die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Cordelia Friesendorf. Sie schrieb über das Thema „Political Economy of EU Retail Banking Integration: Big Actors, Competition and Common Agency“.