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„Jahrhundertelang verlief das Zusammenleben friedlich“

Bei der diesjährigen Francesca-Yardenit-Albertini-Vorlesung des Seminars für Katholische Theologie sprach der Historiker Menachem Ben-Sasson über das Zusammenleben von Juden und Muslimen

26.02.2018

Menachem Ben-Sasson, Historiker und Kanzler der Hebrew University of Jerusalem, hielt die diesjährige Francesca-Yardenit-Albertini-Vorlesung am Seminar für Katholische Theologie.

Menachem Ben-Sasson, Historiker und Kanzler der Hebrew University of Jerusalem, hielt die diesjährige Francesca-Yardenit-Albertini-Vorlesung am Seminar für Katholische Theologie.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Anhängerinnen und Anhänger von Religionen können untereinander in Feindschaft liegen – oder sich auf das Gemeinsame besinnen und Verständnis füreinander entwickeln. Einen Beleg für Letzteres liefert seit 2013 die Francesca-Yardenit-Albertini-Vorlesung des Seminars für Katholische Theologie der Freien Universität. In Erinnerung an die 2011 verstorbene Religionswissenschaftlerin Francesca Yardenit Albertini versteht sich die Vorlesung als Ort der wissenschaftlichen Reflexion des Dialogs der Religionen. In diesem Jahr ist der jüdische Historiker Menachem Ben-Sasson, Kanzler der Hebrew University of Jerusalem, der Einladung des Seminars für Katholische Theologie gefolgt. Er sprach über die jüdisch-muslimische Geschichte und plädierte für eine Vergegenwärtigung der Geschichte gegenseitigen Verständnisses.

Die Nähe zwischen den Religionen klang bereits im Grußwort von Professor Peter-André Alt an: Der Präsident der Freien Universität Berlin hob die seit 1986 bestehende enge Kooperation mit der Hebrew University hervor, die 2011 zu einer strategischen Partnerschaft vertieft wurde; damit ist sie eine von sechs strategischen Partnerschaften, die die Freie Universität Berlin unterhält. Professor Rainer Kampling, Direktor des Seminars für Katholische Theologie, hob in seiner Begrüßung das umfassende wissenschaftliche Werk des Gastes hervor und dessen persönliche Verbundenheit mit der Freien Universität Berlin und der Wissenschaftsregion Berlin-Brandenburg.

Doch in anderen Teilen der Gesellschaft ist das Verhältnis der Religionen untereinander alles andere als friedlich. Das gilt nicht nur für den Nahen Osten, sondern auch für Deutschland. Als die USA im Dezember 2017 erklärten, Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen zu wollen, brannte auf einer propalästinensischen Demonstration vor dem Brandenburger Tor in Berlin eine israelische Flagge. Der Konflikt um die historischen Stätten des Nahen Ostens – wann fing er an?

Geschichte als Vorbild für die Gegenwart

Menachem Ben-Sasson hält die „Lebendigkeit der Vergangenheit“ für eine der wesentlichen Ursachen des Nahost-Konflikts. All die Städte, Regionen und Gebirge, die im muslimischen Koran und im jüdischen Tanach eine so große Rolle spielen, bestünden noch heute. Da die Orte seit Jahrtausenden existieren, scheine es so, als ob die damalige Welt – und somit auch das Herrschaftsverhältnis – noch Gültigkeit habe. Dies begründe die Besitzansprüche von Muslimen und Juden und halte ihren Streit lebendig, sagte der Geschichtswissenschaftler. Die historischen Hochphasen beider Religionen würden von ihren Vertretern als Modell für die Gegenwart verstanden.

Dabei bietet die gemeinsame Vergangenheit Menachem Ben-Sasson zufolge auch die Möglichkeit, das Zusammenleben von Muslimen und Juden ins Zentrum zu rücken. Der Historiker sprach von mehreren Gemeinsamkeiten, die die Religionen miteinander teilen: Neben einer gemeinsamen Geografie und vielen Übereinstimmungen in der Überlieferung sei auch die Sprache ein starkes verbindendendes Element. „Im muslimischen Reich entstanden Handelsbeziehungen von Südspanien über Nordafrika bis Indien. Die Händler der verschiedensten Regionen nutzten oftmals das arabische Alphabet, aber die hebräische Sprache“, sagte Menachem Ben-Sasson.

Zusammenleben von Juden und Muslimen als Perspektive

Nachdem die Muslime im 7. und 8. Jahrhundert ein einheitliches Reich geschaffen hatten, lebten sie mit Christen, Juden und auch Persern in verschiedenen Teilen der Erde zusammen. „Die Koexistenz wurde zur Normalität“, erklärte Ben-Sasson. Das Zusammenleben habe über Generationen hinweg funktioniert, viele Juden seien sogar zum Islam konvertiert. „Das hieß aber nicht immer, dass sie ihre alte Lebensweise aufgaben“, sagte der Wissenschaftler. „Zudem erlaubten die muslimischen Herrscher die Existenz jüdischer Gerichtshöfe.“ Dieses jahrhundertewährende Zusammenleben sei „eine Perspektive, die wir gerade in diesen Tagen gut gebrauchen könnten“, sagte Ben-Sasson zum Ende der Vorlesung.

Den Vortrag des Historikers rundete das Violinspiel des Geigers David Malaev ab. Beim nachfolgenden Empfang, zu dem Rainer Kampling – einer schönen Tradition am Institut folgend – mit einem Bibelwort einlud, wurden in zahlreichen Gesprächen der Vortrag und dessen Perspektiven lebhaft diskutiert – und so Gemeinsames praktiziert. 

Weitere Informationen

Zum ersten Mal fand die Vorlesung zum Gedenken an Francesca Yardenit Albertini auf Initiative von Professor Rainer Kampling, Direktor des Seminars für Katholische Theologie der Freien Universität, 2013 statt. Sie wird jährlich als Kooperationsveranstaltung mit dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg durchgeführt. Die 2011 verstorbene Religionswissenschaftlerin Francesca Yardenit Albertini beschäftigte sich in ihrer Forschung mit allen Bereichen der jüdischen Literatur, Geschichte, Kultur und Religion, insbesondere der Geschichte jüdischer Philosophie. Seit 2007 war sie Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Potsdam und leistete einen Beitrag zum Austausch und zur Etablierung eines interkonfessionellen, wissenschaftlichen Netzwerks in der Region Berlin-Brandenburg.